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Künstlerisches Konzept Panorama-Pavillon

Freitag 18 April 2025

2009 stürzte das Historische Archiv der Stadt Köln ein. Das neue Archivgebäude steht, die Archivalien werden restauriert, aber die Stadtwunde bleibt. Die Künstler von Observatorium haben bemerkt, dass die Katastrophe eine bleibende Wirkung auf das Lebensgefühl und die Lebenseinstellung vieler Kölnerinnen und Kölner hat. Nun laden sie Bürgerinnen und Bürger der Stadt Köln ein, im Mai und Juni 2025 in einem Panorama-Pavillon, gegenüber der Archiveinsturzstelle, an einem „Logbuch der Zwischenzeit“ mitzuschreiben, das dem Historischen Archiv Köln als Vorlass übergeben wird. Das Logbuch wird den Zusammenhang zwischen dem Stadtgeschehen und dem Innenleben der Menschen dokumentieren.
Der Panorama-Pavillon am Waidmarkt ist eine Abwandlung der klassischen Darstellung der Wirklichkeit in 360º -Panoramagebäuden, die einst sehr beliebt waren und überall auf der Welt gebaut wurden. Der Betrachter betritt einen zentralen Aussichtspunkt und hat von dort aus einen Rundumblick auf die Darstellung einer Landschaft oder eines Ereignisses. Um die optische Täuschung zu ermöglichen, ist der Pavillon ein geschlossenes Gebäude mit Oberlichtern, durch die natürliches Licht auf die Darstellung fällt.
Auf dem Waidmarkt wird dieses Prinzip des offenen Daches und der geschlossenen Wand umgekehrt: Das Dach ist geschlossen, die Wände sind offen. Wer in der Mitte des Pavillons sitzt, sieht ein 360º-Panorama der aktuellen Realität des Waidmarktes, das von Boden, Trägern und Dach eingerahmt wird. Anders als ein klassischer Panoramabau ist dieser Pavillon kein statisches Kunstwerk, sondern ein veränderbares Gebilde. Die offenen Wände können von Besucherinnen und Besuchern geschlossen werden, je nachdem, wieviel Privatsphäre oder Tageslicht und Aussicht sie wünschen. Sie entscheiden, ob der Pavillon ein öffentlich zugängliches Kunstwerk oder ein Ort der Abgeschiedenheit ist.
Noch eine weitere Umkehrung findet statt: Der Betrachter sieht nicht das Bild eines Malers oder Fotografen, sondern erhält die Möglichkeit, sich selbst ein Bild von der Wirklichkeit zu machen. Die Projektion der Wirklichkeit ist keine Gegebenheit, sondern eine Handlung. Diejenigen, die sich im Pavillon aufhalten und den Waidmarkt beobachten, sind eingeladen, ihre Erkenntnisse festzuhalten. Zu diesem Zweck befinden sich im Inneren des Pavillons Schränke, Tische und Stühle sowie Zeichen- und Schreibutensilien. Die Künstler, Betreuerinnen und Betreuer des Pavillons sind jederzeit bereit, auch im Gespräch die Einsichten und Erlebnisse festzuhalten.

Der Pavillon ist ein täglich begehbares Arbeitsgebäude, in dem die Kölner Bürgerinnen und Bürger am „Protokoll der Zwischenzeit“ arbeiten – der Zeit zwischen dem Einsturz am 3. März 2009 und der Gegenwart. Im Straßenbild des Waidmarkts verschwinden die Auswirkungen der Einsturz-Katastrophe allmählich aus dem Blickfeld, aber der Ausnahmezustand ist geblieben und zur Normalität geworden. In den sechzehn Jahren seit dem Einsturz haben sich die Schränke mit Büchern über das Ereignis, seine Folgen und die Wahrheitsfindung gefüllt. Der Panorama-Pavillon sammelt Gefühle. Er ist ein offenes Haus für eine offene Stadtwunde. Das Historische Archiv der Stadt Köln wird das Ergebnis dieser Sammlung als Vorlass aufnehmen und bewahren, damit die Nachwelt erfahren kann, wie sich die Katastrophe auf die Menschen und ihr individuelles Erleben ausgewirkt hat. Das können nur die Kölnerinnen und Kölner selbst festhalten; die Künstler sind ihre Gastgeber.




Ikarus

Samstag 5 April 2025

Die Antworten vom Journalist Günter Otten auf Fragen von Andre Dekker
Für mich war der Anblick des Ikarus entscheidend. Er hing wie immer über der Straße am Eingang des Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums – aber jetzt schaute er auf das Loch und den Trümmerhaufen. Das Archiv war eingestürzt – unglaublich. Ich bin Journalist, neige nicht zu vielen Emotionen. Ich rationalisiere. Als ich nach dem Einsturz den Ikarus an der Stirnwand meiner früheren Schule betrachtete, fiel mir das schräg nach oben gerichtete Gesicht auf. Er wandte sein Blick vom Schutthaufen ab. Unser Ikarus an unserer Schule, die Verkörperung des menschlichen Scheiterns, war nicht im Begriff, in seinem Übermut runter zu stürzen. Er floh vor der Sprachlosigkeit der Leute, die sofort wussten, was vertuscht, vermogelt und vertan wurde. Der Ikarus steht für meine Gefühle, die ich nicht in Worte fassen kann.
Ich ging sechs Jahre in dieses Gymnasium, wo, wie ich erst nachträglich entdeckte, damals unbewusst erlebte, ganz besondere Menschen unterrichteten. Uns wurde in Latein Mythologie beigebracht und kommentiert. Im Gymnasium habe ich gelernt den Ikarus zu schätzen: Symbol des Mutes, aber auch des Übermutes.
Ein Jahr nach der Katastrophe schrieb ich ein Buch mit dem Titel „Der Einsturz“. Dann folgten für mich fünfzehn Jahre … wie nenne ich das, nicht Aktivismus oder Politik, sagen wir Bürgerpflicht. Ich koordiniere eine Initiative von Leuten, die mit Kunstaktionen, Veranstaltungen und städtebaulichen Vorschlägen die Schande benennen und eine Vitalität für den Ort suchen. Ich hoffe, die Heilung der Stadtwunde zu erleben. Wenn das in sechs Jahren passieren sollte, wie man verkündet, dann bin ich fünfundsiebzig. Dann ist es fünfundsechzig Jahre her, das ich zum ersten Mal am Waidmarkt war. Der Ikarus übrigens wurde nach der Restaurierung erstmal falsch gehängt. Man sah sofort, dass er sich nicht abhebte, sondern festgenagelt war.




Waidmarkt – Trauerort

Mittwoch 12 März 2025

Waidmarkt, Trauerort
März 2025
Der Karneval ist ein fünftägiges Volksfest am Ende des Winters, das ein ganzes Jahr Vorbereitung erfordert. Der Höhepunkt ist ein Zug durch das Stadtzentrum, bei dem der letzte Wagen fünf Stunden nach dem ersten abfährt. Hunderttausende bunt verekleideter Menschen ziehen schreiend, singend, trinkend und klatschend durch die Straßen; es gibt kaum Autoverkehr. Man erfährt erstmal nichts über Traditionen, Bedeutungen und volkstümliche Hintergründe. Es ist einfach das, was der Außenstehende sieht, wenn er durch die Straßen geht, in denen er temporär wohnt, einkauft und arbeitet. Handel, Arbeit und Bildung (negotium) sind zum Stillstand gekommen. Die Stadt ist ein verträumtes Gewöhl (otium). Doch der Tag beginnt mit Trauer. Es ist der Dritte Dritte, für viele eine unheilvolle Zahl, eingemeißelt in die Kölner Seele wie der Elfte Elfte. An diesem Tag geschah das Unfassbare - das Archivgebäude kippt heute vor sechzehn Jahren in eine Baugrube.
In diesem Jahr versammeln sich um 7.30 Uhr morgens 19 Menschen vor zwei Trauerkränzen an den Zäunen der Baustelle, um schweigend des Todes von Kevin und Khalil zu gedenken. Oberbürgermeisterin Reker fasste die Bedeutung der Versammlung in ein paar langsam gesprochenen Sätzen zusammen: Katastrophe, Unschuld, nicht vergessen, Bürgersinn, Kunst und Kultur, Erinnern und Gedenken.
Wer hörte zu? Zwei Angehörige eines Verstorbenen, drei Mitarbeiter der Stadtverwaltung (Planung, Bauen und Kunst), vier Vertreter der Initiative Archivkomplex, zwei Anwohner, die Café-Besitzerin und ihre Mitarbeiter, zwei Vertreter der Kölner Verkehrsbetriebe, der Präsident des Festkomitees mit seinem Trompeter, eine Politikerin und eine Künstlerin – beobachtet, fotografiert und interviewt von drei Reportern der Lokalpresse. Die Fahrer des Bürgermeisters und des Präsidenten blieben im Auto.
Wen hätte man sonst noch erwarten können? Die Verursacher des Einsturzes, die Kirche Sankt Georg, die geistlichen Beistand leistete, die beiden Gymnasien, die evakuiert wurden, die Menschen, die ihre Häuser verloren, die Archivmitarbeiter und Nachbarn, die mit dem Trauma zu leben lernten.
Wer hat möglichweise das Trauerereignis aus der Ferne beobachtet? Die Bewohner, Schüler und Unternehmer, die in die neuen Gebäude rund um den Unglücksort eingezogen sind. Einige von ihnen bezeichnen sich als Profiteure des Einsturzes. Zu Unrecht - sie zogen in die neuen Luxuswohnungen, die Jahre vor der Katastrophe entworfen wurden. Aber gefühlsmäßig zählt das nicht: Zum Zeitpunkt der Katastrophe, bei der zwei Menschen ums Leben kommen, kaufe ich an diesem Ort von meinem Ersparten eine Wohnung mit einem geräumigen und sonnigen Balkon.

Foto: Kay von Keitz




Waidmarkt, Städtebau

Donnerstag 20 Februar 2025

Waidmarkt, Städtebau
Donnerstag, 20. Februar 2025

Am Waidmarkt, im Zentrum Kölns, befinden wir uns in einem Wohngebiet, das auf drei Seiten von Hotelketten wie Motel One, Apart Hotel, Mercure Hotel, Premier Inn und Koncept Hotel International umgeben ist. An der vierten Seite, an der ruhmreichen Severinstraße, sollte man erwarten, Touristen und Menschen aus dem Viertel zu treffen. Die beiden Gruppen mischen sich aber nicht, wie das sonst überall auf der Welt üblich geworden ist. Sie gehen getrennte Wege: Die Kölner gehen zu Fuß über die Einkaufsstraße und den Waidmarkt in die Stadt. Die Hotelgäste kommen und gehen über die Autoschnellstraßen, sie fahren direkt in die Tiefgaragen.
Der Waidmarkt ist kein Markt und auch kein Platz oder eine Straße. Ich frage die Leute, was sie von dem Platz halten. Sie weichen der Frage nicht wirklich aus, vermeiden es aber hinzuschauen. Vielleicht bekomme ich bessere Antworten, wenn ich danach frage, was sie von diesem oder jenem Gebäude halten. Ich zeige auf ein Gebäude, aber ihr Blick folgt nicht meinem Finger. Das Gespräch stockt, sie laufen davon – nur, damit sie nicht hinschauen müssen? Sie ignorieren einfach die Gegebenheiten des Platzes: die weißen Putzfassaden, die Glaswände, die Aluminiumträger, die Poller und Fahrradabstellplätze oder die Asphaltflächen und den Brunnen aus früheren Zeiten. Das Auge findet anscheinend kein Halt an die glatten Oberflächen. Das Gespräch versandet unaufhaltsam, und wir sehnen uns nach dem Kaffeetrinken-Ritual.
Gehört der Waidmarkt zu den Nicht-Orten wie die Wartehalle eines Flughafens oder der Parkplatz eines Supermarkts? Ich frage noch einmal: „Welchen Charakter hat der Platz?“ „Ach, der Platz?“, lautet die Antwort. Dann frage ich nach dem Eindruck, den die neue Architektur macht. „Ah, die?“ Schließlich gehen die Leute einfach weiter.

Was sagen die Architekten und ihre Auftraggeber? „Wir als Entwickler haben großen Wert darauf gelegt, dass mit dem Waidmarkt ein lebendiges Quartier entsteht. Wir wollten kein reines Büroviertel, das am Abend verwaist.“ Das erfahrene Projektentwickler-Unternehmen weiß um den Stellenwert der richtigen Mischung in innerstädtischen 1a-Lagen: „Unser Ziel war und ist es, eine sich ideal ergänzende und langfristig beständige Infrastruktur zu schaffen – nicht nur für unsere Bewohner und Mieter, sondern für das gesamte Quartier und die Menschen, die es nutzen“, unterstreicht Thomas Frank, Projektleiter des Kölner Waidmarkt-Quartiers den Anspruch seines Frankfurter Unternehmens. „Die Attraktivität des Waidmarkts noch weiter zu steigern und damit auch ein Markenzeichen mitten in Köln zu setzen – das treibt uns an, die richtigen Mieter für unser Areal zu finden. Wir hatten von Anfang an den Anspruch, sowohl ein lebendiges urbanes Quartier zu schaffen als auch eine zukunftsweisende Architektur mit effizienter Flächennutzung zu verbinden. Der gelungene Erweiterungsbau des FWG- Gymnasiums fügt sich perfekt in dieses Konzept ein.“




Archiv bauen

Sonntag 19 Januar 2025

Januar 2025
2009 stürzt ein Archivgebäude in eine tiefe Baugrube. Die Archivalien werden unter Beton und Stahl begraben, aus Trümmern und Schlamm geborgen, zwischengelagert, gereinigt und inventarisiert und in ein neues Archivgebäude aufgenommen. Abgesehen von der Katastrophe und der Empörung über das Versagen der Behörden, zeugen diese Fakten von einem Wunder der Zivilisation.
‘Warum erzählen Sie nicht von diesem Wunder?’ frage ich den Archivar. ‘Praktisch das gesamte Archiv wurde gerettet, alles wird unter optimalen Bedingungen aufbewahrt, Sie haben viel mehr Personal, das Gebäude ist elegant und liegt in der Nähe der Universität. Soll ich weitermachen?’ ‘Nun, ja, wir sind auf Jahrzehnte Wiederaufbauarbeit eingestellt. Wir müssen unsere Arbeit gut machen und nicht zu sehr an die Katastrophe zurückdenken. Wir sind hier und jetzt zufrieden, ohne zu jubeln. Wir vollbringen keine Wunder, wir restaurieren die Archivalien.
Im Restaurierungsatelier wird ein Buch, das monatelang im schwarzen Wasser der Baugrube gelegen hat, in eine Vitrine gestellt. Der Archivar: „Sie denken vielleicht, Sie sehen ein irreparabel beschädigtes Buch, aber schau, sie können eine Seite des verklumpten Buches aufschlagen und den unbeschädigten Text lesen. Das Papier und die Tinte sind von unverwüstlicher Qualität. Dieses Buch wieder heil zu machen, das ist was Restauratoren heiß macht.’
Buchrestaurierung ist lustvoll und berfriedigend! Auf den Seiten 94 und 95 eines Stammbaums entdecke ich messerscharf handgeschriebene Namen: Nicolaus, Adelheid, Scheelen, Caspar von Renckhausen, von Klingenberg, Amalia von Homberg, N. von Altmannshoffen, Georg, senior, von Knöringen. Noch ein wenig Geduld, und wir wissen wieder genau, wie Adel Adel heiratete.
Als die Übergabe des Panorama-Waidmarkt-Logbuchs an das Kölner Archiv angesprochen wird, überkommt mich diese kleine, plötzliche Eingebung, das eigene Tun mit den Augen eines anderen zu sehen und daraus eine neue Perspektive, ja einen neuen Sinne abzuleiten. Wäre es nicht logisch, dass der Archivar in unserem Kunstwerk ein Archivgebäude sieht? Wir wollen einen Pavillon auf den Waidmarkt bauen, in den sich die Kölnerinne und Kölner zurückziehen, um das Provisorium Waidmarkt zu beobachten und Erkenntnisse vor Ort zu hinterlassen. Wir stellen uns eine Klause auf einem Platz vor, eine bewohnte Skulptur als Denkmal, einen Gartenpavillon als Vorboten eines Stadtparks und noch vieles mehr. Was einem alles einfällt, wenn das eigene Werk gedeutet wird! Aber in der Tat, wir bauen auf dem Waidmarkt ein Archiv.