Januar 2025
2009 stürzt ein Archivgebäude in eine tiefe Baugrube ein. Die Archivalien werden unter Beton und Stahl begraben, aus Trümmern und Schlamm geborgen, zwischengelagert, gereinigt und inventarisiert und in ein neues Archivgebäude aufgenommen. Abgesehen von der Katastrophe und der Empörung über das Versagen der Behörden, zeugen diese Fakten von einem Wunder der Zivilisation.
‘Warum erzählen Sie nicht von diesem Wunder?’ frage ich den Archivar. ‘Praktisch das gesamte Archiv wurde gerettet, alles wird unter optimalen Bedingungen aufbewahrt, Sie haben viel mehr Personal, das Gebäude ist elegant und liegt in der Nähe der Universität. Soll ich weitermachen?’ ‘Nun, ja, wir sind auf Jahrzehnte Wiederaufbauarbeit eingestellt. Wir müssen unsere Arbeit gut machen und nicht zu sehr an die Katastrophe zurückdenken. Die Katastrophe und die juristischen Haarspaltereien und die Empörung der Bürgerinnen und Bürger betreffen uns letzenendes nicht. Wir sind hier und jetzt zufrieden, ohne zu jubeln. Wir vollbringen keine Wunder, wir restaurieren die Archivalien.
Im Restaurierungsatelier wird ein Buch, das monatelang im schwarzen Wasser der Baugrube gelegen hat, in eine Vitrine gestellt. Der Archivar: „Sie denken vielleicht, Sie sehen ein irreparabel beschädigtes Buch, aber schau, sie können eine Seite des verklumpten Buches aufschlagen und den unbeschädigten Text lesen. Das Papier und die Tinte sind von unverwüstlicher Qualität. Dieses Buch wieder heil zu machen, das ist was Restauratoren heiß macht.’
Buchrestaurierung ist lustvoll und berfriedigend! Auf den Seiten 94 und 95 eines Stammbaums entdecke ich messerscharf handgeschriebene Namen: Nicolaus, Adelheid, Scheelen, Caspar von Renckhausen, von Klingenberg, Amalia von Homberg, N. von Altmannshoffen, Georg, senior, von Knöringen. Noch ein wenig Geduld, und wir wissen wieder genau, wie Adel Adel heiratete.
Als die Übergabe des Panorama-Waidmarkt-Logbuchs an das Kölner Archiv angesprochen wird, überkommt mich diese kleine, plötzliche Eingebung, das eigene Tun mit den Augen eines anderen zu sehen und daraus eine neue Perspektive, ja einen neuen Sinne abzuleiten. Wäre es nicht logisch, dass der Archivar in unserem Kunstwerk ein Archivgebäude sieht? Wir wollen einen Pavillon auf den Waidmarkt bauen, in den sich die Kölnerinne und Kölner zurückziehen, um das Provisorium Waidmarkt zu beobachten und Erkenntnisse vor Ort zu hinterlassen. Wir stellen uns eine Klause auf einem Platz vor, eine bewohnte Skulptur als Denkmal, einen Gartenpavillon als Vorboten eines Stadtparks und noch vieles mehr. Was einem alles einfällt, wenn das eigene Werk gedeutet wird! Aber in der Tat, wir bauen auf dem Waidmarkt ein Archiv.
Vom 29. November bis zum 12. Dezember spreche ich jeden Tag mit leuten, deren Leben seit dem Einsturz des Archivs in 2009 mit dem Waidmarkt verbunden ist, sei es als Bewohner, Aktivist, Historiker, Lehrer oder Unternehmer. Nach und nach entsteht ein Mosaik aus Fakten, Unsicherheiten, Erwartungen und Plänen, das durch Zynismus, Gleichgültigkeit und Begeisterung gefärbt ist. Jeder gibt sich Mühe, im Hinblick auf die Katastrophe, die langsame und unbefriedigende Rechtsprechung und die enorm lange Zeit des Wiederaufbaus, mir den Charakter der Stadt Köln zu zeichnen. Oft erzählen Befragten von sich selbst; hier versuchen sie, die Seele der Stadt aus ihrer Perspektive auf der 'Einsturzstelle' einzufangen. Über ihr eigenes Alltagsleben erfahre ich fast nichts.
Ich fotografiere ich den Waidmarkt, der in zwei Wochen zweimal sein Aussehen verändert. In wenigen Tagen wird eine Mauer, die die Baustelle umgibt, durch einen Zaun ersetzt und gleichzeitig wird das Loch vollständig mit länglichen Betonplatten abgedeckt. Dann heben zwei weitere Baukräne Bohrgeräte von Ort zu Ort, ein Spektakel aus grellem Lampenlicht und ohrenbetäubendem Lärm, der über die Schallwände dröhnt.
Zunächst zeichne ich jeden Tag im dritten Stock des Gymnasiums den Blick auf den Waidmarkt. Der Mann, der still und unsichtbar in einer Ecke des Klassenzimmers seine Arbeit verrichtet, lenkt die Schüler mehr als erwartet ab. Die Gastfreundschaft der Schule kollidiert mit dem vollen Stundenplan des Zeichen- und Malunterrichts, den räumlichen Arbeiten und den Prüfungen. Ich beschränke mich auf Bilder, Skizzen und Untergründe, die ich anderswo ausarbeite.
An einem Restauranttisch biete ich der Dichterin Monika Rinck, Professorin für Literatur an der Kölner Kunsthochschule der Medien, eine Zusammenarbeit an. Die Antwort erfolgt mit einer Geste: Sie holt aus ihrer Tasche den Gedichtband 42 Ansichten zu Warten auf den Fluss ihrer Vorgängerin Barbara Köhler - die Sammlung, die auf meine Einladung hin in einer Skulptur von Observatorium geschrieben wurde. Darin verknüpft Barbara Gedanken zum Warten und zur Zeit mit urbanen Prozessen im Ruhrgebiet. Monika Rinck entwickelt im Rahmen des Panoramas Waidmarkt ein Semester Literatur und Stadt: Raumordnung in Sprache.
In der ersten Woche von Panorama-Waidmarkt treffe ich die Autorinnen und Autoren von 'Perspektiven Neuer Waidmarkt', Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Kulturdezernats, die Leitung des Historischen Archivs, die Aktivistinnen und Aktivisten von Köln-kann-auch-anders, ArchivKomplex und Baumplatz, Journalistinnen und Journlisten von WDR, Kölnischer Rundschau und MeineSüdstadt, einige Kunstlehrinnen und Kunstlehrer, viele, viele Schülerinnen und Schüler und natürlich auch die Oberbürgemeisterin und den Kulturdezernenten. Alle, mit denen ich spreche, leben seit Jahren mit der Katastrophe und dem klaffenden Loch. Ich sammle ihre Geschichten.
Nach der Einweihung unseres Zeichenstudios im Friedrich-Wilhelm-Gymnasium gehe ich dort jeden Tag in den Zeichensaal im dritten Stock, von wo man die zwanzig Meter tiefe Baugrube vor einer romanischen Kirche zwischen gesichtslosen Zweckbauten im Herzen der Stadt bestaunen kann. Die Baugrube wird während meiner ersten Woche Tag für Tag weiter abgedeckelt. Ich teste die Idee, Tuschezeichnungen mit Farbe zu versehen.
Man wartete auf das Finden der Vermissten und die Bergung der Archivalien, man wartete auf Gutachten, auf die Klärung von Ursache und Verantwortung, man wartete auf das Ende eines langwierigen Prozesses … um nach 15 Jahren zu erfahren, dass es noch weitere acht Jahre dauern wird, bis die unterirdischen Bauten fertiggestellt sein würden. Im Jahr 2032 könnte alles vorbei sein. Die Erwartungen sind nach vier Terminverschiebungen und der Revidierung eines Ratsbeschlusses zur Schaffung einer unteridischen Halle für kulturelle Zwecke nicht mehr sehr hoch. Dann heißt es vielleicht in einigen Jahren auf einen Wettbewerb zu warten, der zu einem von allen geliebten Ort führen soll, an dem auch das Erinnern an Versagen und Schmerz seinen Platz findet. Wie, ja, wie wird hier der Alltag aussehen?
Panorama-Waidmarkt endet, wenn die Stadt Köln im Sommer 2025 ein Logbuch überreicht bekommen hat. Wir laden Sie herzlich ein, mit uns die lange, lange Zwischenzeit zu beschreiben und zu zeichnen. Dieses digitale Logbuch fliesst in das Logbuch im Zeichenstudio ein, das bis Juni 2025 die Lücke umkreist. Auf der Startseite finden Sie, wo und wann das Logbuch ausliegt. Die Abbildung zeigt das Bild von Antonello da Messina: Hieronymus in seiner Klause. Es ist das Paradoxon vom Privaten im Öffentlichen Raum, das im Projekt Panorama-Waidmarkt benutzt wird.
Aus dem Konzept für die Stadt Köln, Mai 2024
Der Waidmarkt ist kein Markt, keine Straße, kein Platz. Es ist ein Ort, geschichtsträchtig, diffus, ominös und tragisch. Die Mitte des Ortes ist ein Loch, in das einst das Archivgebäude der Stadt hineinstürzte. Ein Zaun verhindert den Blick in die Mitte, in das Loch, in die Zukunft. Observatorium will einen Beitrag zur Zukunft des Kölner Stadtgedächtnisses leisten und Bausteine für eine Kultur des Erinnerns in neuen urbanen Räumen entwerfen und erproben.
Eine Skulptur bestehend aus Schränken, Sitzen, Tischen und einem Logbuch wandert ab November 2024 ein halbes Jahr durch öffentliche Einrichtungen und private Orte rund um den Waidmarkt. Im Frühling 2025 wird eine öffentlich zugängliche Klause an prominenter Stelle im Georgsviertel installiert. Die Bürger*innen Kölns werden eingeladen, dort ihre Gedanken zur Zukunft des Ortes und zum Stadtgedächtnis ins Logbuch einzutragen.
Die Skulptur wird bis zum Frühjahr 2025 als mobiles Gästezimmer in Schulen, Ladenlokalen, Wohnungen und im öffentlichen Raum die Einsturzstelle am Waidmarkt umkreisen. Die Möbelskulptur wird auch in oberen Etagen, Schaufenstern und Vorgärten untergebracht, damit man sich von oben ein Bild von der tragischen Stadtraumwunde und vom Wiederaufbau im städtischen Gefüge machen kann.